Waren Sie schon einmal in einem Autogrill? Wissen Sie, welche Minderheitensprachen in Italien geschützt sind? Ist Ihnen bekannt, wofür „Papeete“, der Name der Hauptstadt von Französisch-Polynesien, im italienischen Politikjargon steht? Wissen Sie, was ein „Cinepanettone“, dass „lui“, wenn „LVI“ geschrieben, ein Kürzel für Mussolini und warum „Sanremo“ eine nationale Institution ist? Schließlich und schwieriger: Können Sie den Erfolg von Silvio Berlusconi erklären?
Wer diese Fragen beantworten kann, muss das Buch „Kurz gesagt: Italien“ von Sebastian Heinrich nicht lesen. Was nicht heißt, dass die Lektüre nicht dennoch anregend ist, denn nicht nur die Antworten sind originell, sondern auch, wie der Autor sie findet. Heinrich, politischer Journalist des Jahrgangs 1987 und mit diesem – so mehrmals! – „schrecklich komplizierten Land“, in dem er die letzten acht Schuljahre verbracht hat, „eng verwoben“, nimmt sich fünfzehn italienische Wörter vor, die nicht eins zu eins übersetzbar sind, um ihre Bedeutung, Herkunft und Verwendung so genau und ausführlich zu umschreiben, dass sie viel erzählen über italienische Geschichte, Lebenswirklichkeit und Identität. Die Unübersetzbarkeit wird zum Impuls für Erläuterungen, löst eine Art hermeneutischer Umwegrentabilität aus.
Die Einträge sind alphabetisch geordnet und in drei Abschnitte gegliedert: Erst wird das Wort, meist mit der Erklärung aus dem Treccani, dem italienischen Duden, vorgestellt, dann die „Geschichte hinter dem Wort“ erzählt und schließlich werden in „passaparola“ (Mundpropaganda) weiterführende Hinweise gegeben. So kondensiert „Autogrill“ die Geschichte des Wirtschaftswunders, steckt in „Belpaese“ der Kampf um nationale Identität, hat der „Berlusconismo“ etwas von der Verführung eines Casanovas, ist „Ferragosto“ als geplanter Ausnahmezustand mit den Gesetzen der globalen Wirtschaft immer weniger kompatibel, gehört die Verehrung von Mussolini (nicht nur) an seinem Geburtsort Predappio zu einer faschistischen Tradition, die nie aufgearbeitet wurde. Im „Patron“ Berlusconi, Eigentümer und Präsident der AC Milan, präfiguriert sich der Ministerpräsident Berlusconi. Und die turbulente Geschichte des Festivals von Sanremo spiegelt den Wandel einer Gesellschaft, die es als (letztes) generationenübergreifendes Forum nutzt.
Der Hang der Italiener zum Verschwörungsglauben
Auch Phänomene der Alltagskultur nimmt der Autor in den Blick: Etwa den 1983 erfundenen „Cinepanettone“, die Filmkomödie zur Weihnachtszeit, den er als politisch unkorrektes, die Nation spaltendes Unterhaltungsgenre ausmacht, den Mythos der Caffè-Kultur („Moka“), den er mit der Wirklichkeit konfrontiert, oder die Karriere der „Merendina“, eines industriell hergestellten und einzeln abgepackten süßen Teigsnacks, die sich einer ausgebufften Marketingkampagne verdankt.
Einmal ist das unübersetzbare Wort eine Zahl: „Quattrocentoottantadue“ meint das Gesetz 482, das 1999 zum Schutz von zwölf Minderheitensprachen verabschiedet wurde. Auf den Stiefel projiziert, macht es die Karte bunt: Von Farbflächen im Norden für Französisch im Aostatal, Deutsch in Südtirol und Slowenisch in Friaul-Julisch Venetien bis zu Farbflecken im Süden für albanische und griechische Sprachinseln. Die Geschichten dahinter erzählen von religiöser und politischer Flucht, Vertreibung und Migration, das Gesetz selbst von der späten Kehrtwende nach der Unterdrückung im Faschismus. „Erhebliche Mängel“, so Heinrich, bleiben: Die seit dem späten Mittelalter in Italien belegten Sprachen der Sinti und Roma wurden nicht berücksichtigt.
Sebastian Heinrich hat viel recherchiert, ist belesen und neugierig, kennt Fußball, Liedermacher und Werbung, also alles, was auch wichtig ist. So klar und schlüssig ist die Frage, warum in Italien so oft die Regierung stürzt, kaum einmal beantwortet worden. Nicht so gut ist Heinrich darin, Widersprüche stehen zu lassen: Zu „Dietrologia“ – wörtlich: die Wissenschaft von dem, was dahintersteckt – führt er Belege für den Hang der Italiener zum Verschwörungsglauben an. Das Attentat auf Aldo Moro 1978 ist hierzu schier unerschöpflich, bis heute hat es eine Flut von Interpretationen ausgelöst.
Romantisierungen, Projektionen und Vorurteile
Dass eine scharfsinnige Recherche darunter ist, die, indem sie puzzleartig Indizien zusammenfügt und den Zustand von Moros Partei, der Democrazia Cristiana (DC), seziert, zu einer komplexen Deutung gelangt, wird nicht erwähnt. Dabei wurde „Die Affaire Moro“ von Leonardo Sciascia, der die Debatte angestoßen und lange bestimmt hat, in Deutschland, auch weil sie die Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz zum Vergleich heranzieht, stark beachtet und kürzlich neu übersetzt. Ähnliches gilt zum Thema „Mezzogiorno“: Franco Cassanos Schrift „Il pensiero meridiano“, 1996 erschienen und längst ein Klassiker, mit der der Bareser Soziologe für eine andere (Selbst-)Wahrnehmung des Südens eintritt, kommt nicht einmal in der „Mundpropaganda“ vor.
Das Buch ist aus einem Podcast hervorgegangen, von dem seit Juni 2022 jeden Monat eine Folge zu hören ist. Die Hörversion fällt mit O-Tönen und Italo-Pop-Zitaten farbiger aus, dagegen tendiert die gedruckte Fassung mit Querverweisen und kompaktem Anhang zum Handbuch. Zum „Mezzogiorno“ gibt es keinen charmanteren Zugang als Luciano De Crescenzos Film „Also sprach Bellavista“ mit der Ankunft des Dottor Cazzaniga in Neapel. Das Buch verzichtet darauf: Die Geschichte einer Brauerei in Messina, die von der Belegschaft gerettet wurde, kann da nicht mithalten.
Sebastian Heinrich geht es um nicht mehr und nicht weniger, so erklärt er im Vorwort, als Italien ernst zu nehmen. Das ist, dessen ist er sich bewusst, angesichts der Romantisierungen, Projektionen und Vorurteile, die unser Italien-Bild prägen, keine Kleinigkeit. Die Klischees kann er mit seinem Buch nicht abräumen, aber ganz so mächtig erscheinen sie nach der Lektüre nicht mehr.
Sebastian Heinrich: „Kurz gesagt: Italien“. Italien erklärt – Wort für Wort. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 309 S., br., 16,– €.
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