Parlamentswahl zwischen der EU und Russland

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Bidsina Iwanischwili lässt keine Zweifel an seinen Plänen. Vom Wahlkampfauftakt im August bis zur Abschlusskundgebung seiner Partei am Mittwochabend hat er es unzählige Male wiederholt: Wenn der seit zwölf Jahren regierende Georgische Traum die Parlamentswahl am Samstag gewinnt, sollen in Georgien die Oppositionsparteien verboten werden – und zwar in der Verfassung. „Das sind Feinde des Volkes und Feinde des Landes“, sagte Iwanischwili Anfang der Woche in einem Interview mit einem regierungstreuen Fernsehsender. Es werde keine patriotische Kraft außerhalb des Georgischen Traums geben, denn „jeder, der positiv ist und das Land liebt, findet einen Platz bei uns“. Oppositionspolitiker beschimpfte er als „Schufte“, die eine „strenge Strafe“ verdienten.

Iwanischwili ist formal nur Ehrenvorsitzender der Regierungspartei, die er vor dreizehn Jahren gegründet hat. In Wirklichkeit bestimmt der mit großem Abstand reichste Mann Georgiens über den Kurs von Partei und Regierung.

Er stellt die Wahl am Samstag als Abstimmung über die weitere Existenz Georgiens dar. Sie sei eine Entscheidung zwischen Frieden und einem vernichtenden Krieg gegen Russland. In den wolle die Opposition das Land im Auftrag einer „globalen Kriegspartei“ ziehen, die über EU und NATO die Herrschaft übernommen habe, behauptet Iwanischwili. Ein Plakat des Georgischen Traums zeigte eine kriegszerstörte ukrainische Kirche neben einer heilen georgischen Kirche. Die Botschaft: Nur mit dem Georgischen Traum an der Macht werde das Land dem Schicksal der Ukraine entgehen.

Iwanischwili ist für die Opposition „russischer Oligarch“

Aus Sicht der Oppositionsparteien ist die Wahl ähnlich dramatisch: Für sie geht es darum, ob Georgien ein freies Land und eine westlich orientierte Demokratie bleibt oder es zu einer Diktatur in Russlands Machtbereich wird. „Georgien wählt Europa“ war das Motto der Abschlusskundgebung der Opposition, zu der sich am Sonntag in der Hauptstadt Tiflis etwa 100.000 Menschen zusammenfanden. Die Regierungsgegner bezeichnen Iwanischwili als „russischen Oligarchen“. Er hat sein Milliardenvermögen in den Neunzigerjahren in Russland gemacht und hatte dort auch noch große geschäftliche Interessen, als er 2011 in Georgien in die Politik ging. In seinem Umfeld gibt es Personen, die enge Verbindungen nach Russland haben – zum Teil sogar zum Geheimdienst FSB.

Der Ausgang der Wahl ist vollkommen offen, die Stimmung im Land ist nervös. Viele erwarten, dass die Auseinandersetzung nach der Abstimmung auf den Straßen von Tiflis weitergeführt wird. Denn es ist ungewiss, ob die unterlegene Seite das Ergebnis akzeptiert, das die staatliche Wahlkommission verkündet. Sie wird von loyalen Gefolgsleuten des Georgischen Traums geführt. Die Opposition fürchtet nicht nur deshalb Wahlmanipulationen in großem Stil.

Sowohl die Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als auch einheimische Wahlbeobachtungsorganisationen berichten über den Einsatz sogenannter adminis­trativer Ressourcen durch den Georgischen Traum. Es gibt zahlreiche glaubhafte Berichte darüber, dass vor allem in ländlichen Gebieten massiver Druck auf Wähler ausgeübt werde, für die Regierungspartei zu stimmen. Im Laufe des Wahlkampfs gab es in den vergangenen Wochen Angriffe auf Büros, Kandidaten und Helfer der Opposition.

Es sah nach einem sicheren Sieg für die Regierung aus

Der Georgische Traum behauptet derweil, das Land erlebe bei dieser Wahl eine präzedenzlose Einmischung durch den Westen. Iwanischwili raunt über die Gefahr eines Umsturzes „von außen“, das heißt, aus dem Westen gesteuerten Kräften. Moskau schürt diese Stimmung: Regelmäßig verkünden führende Vertreter des russischen Regimes – darunter auch Sergej Naryschkin, der Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes – angebliche Erkenntnisse über eine von den Vereinigten Staaten geplante Revolution in Georgien. Anfang Oktober sagte Naryschkin, er sei sicher, die Georgier würden trotz westlichen Drucks „weise“ entscheiden. Zur Nervosität trägt bei, dass seit dem russisch-georgischen Krieg im August 2008 russische Truppen in nur 40 Kilometer Entfernung von Tiflis stehen.

Wahlumfragen sind in Georgien zwar notorisch unzuverlässig, aber eine klare Tendenz lässt sich aus ihnen dennoch ablesen. Danach kann Iwanischwilis Georgischer Traum erwarten, mit dreißig bis vierzig Prozent der Stimmen stärkste Kraft zu werden.

Die Mehrheit der Sitze im Parlament könnte er aber verfehlen. Noch im Frühjahr sah es so aus, als müsste die Regierungspartei nicht um ihren Sieg fürchten. Sie ist zwar nicht populär, kann sich aber darauf verlassen, dass die von ihr abhängigen Staatsbediensteten für sie stimmen. Ihre Gegner verloren sich in Kleinkriegen untereinander. Es schien wahrscheinlich, dass viele der Oppositionsparteien an der Fünfprozenthürde für den Einzug ins Parlament scheitern würden.

Agentengesetz trotz Massenprotesten durchgesetzt

Doch eine Entscheidung des Georgischen Traums änderte die Lage. Im April brachte die Regierungspartei im Parlament ein Gesetz ein, das Nichtregierungsorganisationen verpflichtet, sich als „Vertreter ausländischer Mächte“ zu registrieren, wenn sie mehr als zwanzig Prozent ihrer Einkünfte aus dem Ausland erhalten. Schon ein Jahr zuvor hatte die Regierung versucht, ein Gesetz mit fast gleichem Wortlaut durchzusetzen. Es ist nach dem Vorbild des Gesetzes über „ausländische Agenten“ formuliert, das in Russland seit Langem zur Unterdrückung kritischer Organisationen dient.

Im Frühjahr 2023 hatte der Georgische Traum das von seinen Gegnern deshalb als „russisches Gesetz“ bezeichnete Vorhaben nach Massenprotesten zurückgezogen. Die Demonstrationen gegen seine Wiedervorlage in diesem Jahr waren noch größer, aber dieses Mal hielt die Regierungspartei daran fest. Bis zur Verabschiedung des „russischen Gesetzes“ Mitte Mai de­monstrierten in Tiflis wochenlang jeden Abend Zehntausende dagegen, obwohl die Machthaber Wortführer der Proteste mit Schlägertrupps und Drohungen gegen ihre Familien einzuschüchtern versuchten.

Gegen das Gesetz positionierte sich auch die EU: Es widerspreche eindeutig den demokratischen Grundsätzen, auf die sich Georgien als EU-Beitrittskandidat verpflichtet hat. Repräsentanten mehrerer EU-Staaten, darunter Deutschlands, machten deutlich, dass Georgien bei einer Fortsetzung des derzeitigen Kurses keine Chancen auf die Eröffnung von Beitrittsgesprächen habe. Das ist für den Georgischen Traum ein Problem: In Umfragen sprechen sich seit zwei Jahrzehnten konstant mehr als drei Viertel der Georgier für die Mitgliedschaft ihres Landes in EU und NATO aus – also auch die Wähler der Regierungspartei.

Der Georgische Traum verspricht deshalb, das Land in beide Organisationen zu führen, aber in Frieden mit Russland und „mit Würde“. Das soll heißen: zu seinen Bedingungen. Gleichzeitig bedient sich die Partei seit einigen Jahren immer offener einer antiwestlichen Rhetorik. Auf die Kritik an verschleppten Reformen, autoritären Methoden und Korruption antwortet die Regierungspartei mit Verschwörungstheorien, nach denen der Westen angesichts des Kriegs in der Ukra­ine in Georgien eine „zweite Front“ gegen Russland eröffnen wolle. Zudem werden Europa und die USA – wie in der Propaganda des russischen Regimes – als Vertreter einer „pseudoliberalen“ LGBT-Ideologie dargestellt, die Georgien zwingen wolle, seine christliche Identität und Traditionen aufzugeben.

Aus Sicht großer Teile der georgischen Zivilgesellschaft und der Opposition war das „russische Gesetz“ ein weiterer Beleg dafür, dass der Georgische Traum letztlich in Moskaus Diensten stehe. Das ist der Hintergrund für die starken Emotionen, die das Gesetz auslöste. Iwanischwili begründete sein Beharren auf das Vorhaben Ende April in einer Rede vor Anhängern taktisch: In den Protesten gegen das Gesetz vergeudeten die Gegner der Regierung jene Energie, die sie eigentlich für den Wahlkampf im Herbst nutzen wollten. Damit hat er sich verrechnet.

Bei den Demonstrationen spielten die Oppositionsparteien eine geringe Rolle; ihre Vertreter waren als Redner ausdrücklich nicht erwünscht. Doch unter dem Eindruck der Proteste setzte in der Opposition eine Konsolidierung ein, durch die sie nun eine reale Chance hat, eine Mehrheit im Parlament zu erringen.

Präsidentin gegen Regierung

Eine bedeutende Rolle in diesem Prozess spielte Präsidentin Salome Surabischwili. Sie war zwar 2018 als Kandidatin des Georgischen Traums gewählt worden, hat sich aber gegen den anti­westlichen Kurs der Regierung gestellt. Surabischwili hat die Parlamentswahl bereits während der Proteste im Frühling zu einem „Referendum über die europäische Zukunft Georgiens“ erklärt. Sie hat eine „Europäische Charta“ initiiert, in der sich die vier wichtigsten Oppositionskräfte darauf verpflichten, im ersten Jahr nach der Wahl gemeinsam die gesetzlichen Grundlagen für die wichtigsten von der EU geforderten Reformen zu beschließen, darunter die Schaffung einer unabhängigen Justiz.

Trotz des Bekenntnisses zur Zusammenarbeit war eine einheitliche Oppositionsliste aus Sicht der meisten Regierungsgegner nicht sinnvoll. Größte Oppositionspartei ist die Vereinte National­bewegung des früheren Präsidenten Mi­cheil Saakaschwili, der seit seiner Rück­kehr nach Georgien vor drei Jahren in­haftiert ist. Der Anführer der Rosen­revolution von 2003 hat eine treue An­hän­gerschaft, aber bei einer großen Mehr­heit der Georgier ist er wegen des autoritären Gehabes in der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit verhasst. Der Georgische Traum kam wegen der Unzufriedenheit mit Saakaschwili 2012 mit einem überwältigenden Wahlsieg an die Macht und hat seine Erfolge in den beiden darauffolgenden Wahlen wesentlich der – von ihm geschürten – Furcht vieler Georgier vor einer Rückkehr Saakaschwilis zu verdanken.

Auch jetzt versuchen Iwanischwili und seine Gefolgsleute, die gesamte Opposition als Satelliten Saakaschwilis darzustellen: Die Gegner des Georgischen Traums werden als „kollektive Nationalbewegung“ bezeichnet. Ohne die Stimmen der Anhänger Saakaschwilis ist ein Machtwechsel in Georgien nicht möglich. Aber eine deutliche Mehrheit der Georgier würde nicht für eine mit ihm in Verbindung stehende Liste stimmen.

So treten neben der Nationalbewegung drei weitere Oppositionskräfte an: Die „Koalition für Wandel“ ehemaliger Weggefährten Saakaschwilis, die mit ihm gebrochen haben; das Bündnis „Starkes Georgien“, das für sich in Anspruch nimmt, weder der Nationalbewegung noch dem Georgischen Traum zu entstammen; und die Partei „Für Georgien“ des früheren Ministerpräsidenten Giorgi Gacharia, der mit dem Georgischen Traum gebrochen hat und gezielt enttäuschte Anhänger der Regierungspartei anspricht.

Viele Anhänger der Opposition schwan­ken seit den Protesten im Frühjahr zwischen Hoffnung und Endzeitstimmung. Zwar bestehen ernsthafte Chancen auf einen Regierungswechsel. Doch die radikale Rhetorik des Georgischen Traums lässt die Zukunft für den Fall seines Siegs äußerst düster aussehen. Unter jungen, gut ausgebildeten Menschen macht sich eine Stimmung breit, dass dies die letzte Chance für ihr Land ist, bevor sie es verlassen.

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