Als Deidre Holden vor zwanzig Jahren Wahlleiterin von Paulding County wurde, kümmerte sich niemand genauer um das Thema. An Wahltagen ging man zum Wahllokal, traf Nachbarn, Freunde, die Familie. Dann kamen 2016 und 2020, und plötzlich interessierten sich nicht nur die Amerikaner, sondern die ganze Welt dafür, wie das hier mit dem Wählen läuft. „Ich habe beobachtet, wie das von einer kleinen Sache zu einem Thema wurde, das jeden Tag in den Nachrichten ist“, sagt Holden. Und sie findet das grundsätzlich super: Endlich interessierten die Leute sich für Wahlen. „Alle sollen sehen, wie das in einer Demokratie funktioniert.“
Doch Holdens Job ist in den vergangenen Jahren nicht einfacher geworden. Paulding County liegt im Nordwesten Georgias, knapp eine Stunde von Atlanta entfernt. Hier wählt eine Mehrheit seit den Achtzigerjahren treu die Republikaner, vor vier Jahren stimmten 63 Prozent der Wähler für Donald Trump. Die Verschwörungstheorien und das Misstrauen gegenüber dem System haben hier trotzdem oder gerade deswegen Einzug gehalten.
In den vergangenen Monaten haben unter Holdens Aufsicht vierhundert Wahlhelfer im Sicherheitstraining zum ersten Mal mögliche Vorkommnisse durchgespielt: einen Schusswaffenangriff, einen medizinischen Notfall, verdächtige Pakete, einen Stromausfall. Sie wissen nun, wie sie mit einem aggressiven Wähler umgehen, nach welchen Auffälligkeiten sie Ausschau halten sollten und wie das Codewort lautet, mit dem sie Kollegen unauffällig mitteilen können, dass etwas nicht stimmt.
Post wird nur noch mit Maske und Handschuhen geöffnet
„Wir tun alles in unser Macht Stehende, um proaktiv zu sein, denn sonst ist es zu spät“, sagt Wahlleiterin Holden in ihrem Büro in Dallas. Sie fürchtet nicht um die eigene, wohl aber um die Sicherheit der Wähler und ihrer Mitarbeiter und Helfer. Auf einem Schrank steht deswegen auch eine Tüte mit Narcan, das gegen Überdosen mit Opioiden eingesetzt wird. Eine Vorsichtsmaßnahme, nachdem im Herbst Wahlbüros in mehreren Staaten Briefe mit weißem Pulver erhalten hatten. Post wird hier in Paulding County nur noch mit Maske und Handschuhen geöffnet.
Nach der Präsidentenwahl vor vier Jahren stand kein Bundesstaat so im Fokus der Lüge vom Wahlbetrug wie Georgia. Donald Trump persönlich rief am 2. Januar 2021 beim für Wahlen zuständigen Innenminister Brad Raffensperger an und forderte ihn auf, das Wahlergebnis in Georgia zu seinen Gunsten zu verändern. „Ich will einfach nur 11.780 Stimmen finden, das ist eine mehr, als wir haben. Denn wir haben diesen Staat gewonnen, und das Ergebnis zu drehen ist ein großartiges Zeugnis für das Land. Ich brauche nur 11.000 Stimmen“, sagte Trump zu Raffensperger. Es gibt eine Tonaufnahme des Anrufs. Raffensperger, ein Republikaner, verweigerte sich der Aufforderung. Trump erwiderte, eine Wahlniederlage werde das Land teuer zu stehen kommen, „in vielerlei Hinsicht“.
Am selben Tag erhielt Deidre Holden eine Bombendrohung. Ihr Büro war gerade in den Vorbereitungen für die Stichwahl, die über die Mehrheit im Senat entscheiden würde. In der E-Mail, die auch an zehn weitere Bezirke ging, hieß es, alle Wahllokale in Paulding County würden in die Luft gejagt, „bis Donald Trump bleibt, wohin er verdammt noch mal gehört“. Die Niederlage Trumps in der Präsidentenwahl war da schon knapp zwei Monate offiziell. „Wir werden den Anschlag auf den Boston-Marathon aussehen lassen wie ein Kinderspiel“, hieß es weiter. Bei dem Attentat in Boston im Jahr 2013 gab es drei Tote und mehr als 250 Verletzte.
Die Verschwörungstheorie, dass die Wahl gestohlen wurde
Für Holden folgten in Dallas Monate der Ungewissheit. Das FBI vermutete einen ausländischen Akteur, konnte die Quelle jedoch nie ausmachen. Die Mitarbeiter des Wahlbüros parkten damals, wie die Polizei es ihnen geraten hatte: möglichst nah an den Fenstern des Gebäudes, damit die Autos eine mögliche Explosion abschwächten. Holdens Mann stand am Wahltag um drei Uhr morgens mit ihr auf und wich den Tag über nicht von ihrer Seite. Ging sie auf Toilette, stand er vor der Tür. Angst lässt sich Holden keine machen, eher sei sie damals wütend gewesen, sagt sie. Doch seither hat sie Probleme mit Menschenmassen und mag es nicht, wenn Fremde auf sie zugehen.
Das größte Problem von Wahlbeamten und Wahlhelfern sei das Stigma, das seit 2020 an ihnen hafte, sagt Holden. Sie wird auf der Straße immer wieder angesprochen von Leuten, die Zweifel an der Integrität der Wahlabläufe äußern. Ihnen kann Holden wenigstens sagen: Trump hat hier in Paulding County vor vier Jahren doch gewonnen. „Aber da ist immer dieser Zweifel, diese Verschwörungstheorie, dass die Wahl gestohlen wurde“, sagt sie.
Trump selbst begnügt sich inzwischen nicht mehr damit, auf angeblichen Wahlbetrug damals hinzuweisen, er behauptet auch, Kamala Harris könne in der kommenden Woche nur noch durch Betrug gewinnen. Als Verstärker dient der Milliardär und Techunternehmer Elon Musk, der beinahe täglich Falschmeldungen über Wahlbetrug auf seinem Netzwerk X verbreitet. Holden nennt solche Anschuldigungen „entmutigend“. Gerade Präsidentschaftskandidaten sollten den Amerikanern lieber die Vorteile des Wählens klarmachen. Die „Negativität“ müsse aufhören.
„Ich liebe es, etwas für unsere Wähler zu tun“
Für Holden hat es oberste Priorität, das Vertrauen der Wähler zurückzugewinnen. „Wir brauchen Transparenz“, sagt sie. Beide Kandidaten sollten mal in einem Wahllokal vorbeischauen, um die Abläufe zu sehen. Holden hat grundsätzlich auch kein Problem mit dem Vorschlag des von Trump-Anhängern dominierten Wahlausschusses Georgias, alle Stimmzettel künftig per Hand nachzuzählen, um das Computerergebnis zu bestätigen. Hier in Paulding County zählen sie ohnehin händisch aus. Das Oberste Gericht von Georgia hat diese kurzfristig angesetzte Regelung Mitte des Monats jedoch zunächst blockiert – für die Präsidentenwahl komme das zu spät. Viele Demokraten sehen in dem Vorstoß des Ausschusses, dessen drei republikanische Mitglieder Trump jüngst seine „Pitbulls“ nannte, ein Einfallstor für unberechtigte Zweifel an der Wahl und Wahleinmischung.
Es hat auch mit der Furcht vor Zwischenfällen zu tun, dass in diesem Jahr auch ohne Pandemie Millionen amerikanischer Wähler schon vor dem Wahltag ihre Stimme abgegeben haben. In Paulding County sind es eine Woche vor der Wahl knapp 50.000 von 139.000 Wahlberechtigten. Auch deswegen hofft Holden darauf, dass der kommende Dienstag ruhig verläuft. Sie wird um fünf Uhr die Tür am Constitution Boulevard in Dallas aufschließen und das Haus wahrscheinlich erst nach Mitternacht wieder verlassen. Für die Wahlleiterin kam es trotz der Gefahren nie infrage, sich einen neuen Job zu suchen. Sie gebe nicht auf, sagt Holden. „Ich liebe es, etwas für unsere Wähler und unsere Gemeinschaft zu tun, ungeachtet der Drohungen und der Frustration.“
Die Vereinigten Staaten haben ein dezentrales Wahlsystem, alle Bundesstaaten oder sogar deren Bezirke haben unterschiedliche Abläufe und Regelungen. Melissa Hogan wusste lange nichts über die Details in Paulding County, vergaß im vergangenen November sogar, zu einer örtlichen Wahl zu gehen. Doch als sie das einer Freundin erzählte, überredete die sie, Wahlhelferin zu werden. Acht Monate nach ihrer ersten Wahl leitet Hogan am Dienstag ein eigenes Wahllokal in dem Bezirk. Angst hat sie keine, sie vertraut auf das grundsätzliche Gefühl von Sicherheit in ihrem County. Aber die zweifache Mutter erwähnt doch, dass auch ein paar Veteranen in ihrem Team seien. Die wüssten ja im Zweifelsfall . . . – den Rest des Satzes lässt Melissa Hogan in der Luft hängen.
Wenn Wähler aufgebracht sind über angeblichen Wahlbetrug, erklärt sie ihnen alles: „den Wahlprozess, wie genau die Maschinen funktionieren und warum ihre Stimme bei uns sicher ist“. Wenn sie dann immer noch darauf dringen, es gehe nicht mit rechten Dingen zu, verweist Hogan darauf, dass sie zu den Abläufen in anderen Staaten nichts sagen kann. Wahlhelfer sind hier überparteilich. Unterstützungsbekundungen an den Autos müssen sie entfernen, bevor sie auf den Parkplatz rollen. Auch die Wähler, die sich vor dem Backsteinbau in der Sonne aufreihen, dürfen zur Stimmabgabe keine Zeichen der beiden Parteien tragen. Die meisten wissen das, aber einige kommen mit Trump-Kappen. Die müssen sie dann nicht nur abnehmen, sondern auch außer Sichtweite verstauen. Zur Not unter dem T-Shirt.
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