„Deutschland ist ein Restrukturierungsfall“, sagt Stefan Schaible. Er ist der CEO der Unternehmensberatung Roland Berger und hat gerade mit seinen Kollegen von McKinsey und der Boston Consulting Group (BCG) für das Handelsblatt eine Lösung aus der Misere entwickelt. „Für uns als Berater war es daher eine moralische Verpflichtung und ein Ansporn zugleich, uns mit einem Entwurf einzubringen, wie die deutsche Wirtschaft sich wieder in der Weltspitze etablieren kann“, sagt denn auch BCG-Zentraleuropachef Michael Brigl. Der Entwurf misst 95 Seiten und nennt sich „Agenda 2035“, wohl nicht zufällig in Anspielung auf die Agenda 2010 des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, mit der der Sozialstaat radikal umgebaut wurde.
Für die Unternehmensberater ist ein Ausflug in die Politik dünnes Eis. Sie sind es eben gewohnt, Unternehmen zu analysieren und die besten Strategien für eine profitable Zukunft vorzuschlagen, doch ein Staat muss viele unprofitable Ausgaben übernehmen: Sozialleistungen, Militär oder das Gesundheitssystem sind keine Bereiche für Gewinne. Deswegen übernehmen sie private Unternehmen auch nur ungern. Zudem lassen sich unproduktive Mitarbeiter in einer Firma entlassen und einsparen, unproduktive Bürger gehören aber weiterhin zum Staat. Unternehmensberater müssen also bei einer Politik-Analyse umdenken.
Herausgekommen sind dabei fünf Maßnahmenbündel, mit denen die Berater die deutsche Wirtschaft wieder ankurbeln wollen. Das meiste davon bleibt vage, was bei einem Konzeptpapier nicht ungewöhnlich ist. Das sind die Ansatzpunkte von McKinsey, BCG und Roland Berger.
1. Kerngeschäfte stärken: Auto, Maschinenbau, Chemie und Tech
Die Automobilindustrie, der Maschinenbau, Chemie und Pharma sind die vier umsatzstärksten Branchen in Deutschland. Die Berater zählen auch IT- und Kommunikationstechnik sowie Stahl- und Metallbau zu den Kernbranchen der deutschen Wirtschaft. In mehreren davon kriselt es seit Jahren: Die Autoindustrie hat den Wandel zu alternativen Antrieben verschlafen, Chemie- und Metallindustrie leiden unter hohen Energie- und Rohstoffpreisen, alle Branchen gemeinsam unter dem Fachkräftemangel.
Ein ganzes Bündel von Maßnahmen soll diese Kernbranchen wieder stärken. Der Staat soll mit mehr öffentlichen Investitionen eingreifen und öffentliche Aufträge stärker für innovative Produkte aus Deutschland vergeben. Parallel sollen institutionelle Investoren wie Lebensversicherer und Pensionsfonds einen Teil ihres Geldes riskanter in Startups anlegen dürfen. Dazu braucht es eine Reform der Schuldenbremse. Die Manager denken dabei an ein Modell aus der Privatwirtschaft: Eine Investition würde etwa in diesem Jahr vom Staat getätigt, dann aber über eine gewisse Dauer jedes Jahr abgeschrieben. So würde der Bundeshaushalt jedes Jahr nur mit einem Teil der Investition belastet.
Auch bei Rohstoffen soll der Staat einschreiten und zum einen die heimische Recycling-Industrie fördern, zum anderen Importpartnerschaften mit Länder schließen, die uns wichtige Rohstoffe liefern. Das klingt einfach, dürfte aber im Fall Seltener Erde aus China schwer werden. Bei Flüssiggas hat die Bundesregierung diesen Ansatz zuletzt aber schon verfolgt.
Daneben bleiben viele vage Vorschläge, die seit Jahren immer wieder zu hören sind: Mehr Digitalisierung in den Unternehmen ist notwendig, weniger Bürokratie und schnellere Genehmigungsverfahren von Staatsseite. Zudem: Die Berater wollen die „Grenzsteuern für zusätzliches Einkommen“ verringern. Das klingt erst einmal gut. Sie würden dann auf jeden zusätzlich verdienten Euro weniger Einkommensteuer bezahlen als heute. Praktisch bedeutet das aber lediglich, dass die Steuersätze von Gut- und Spitzenverdienern gesenkt werden sollen, während Niedrigverdiener keinen Vorteil bekommen.
2. Investitionen in neun neue Branchen
Es gibt heutzutage rund 50 Technologien, von denen Ökonomen weltweit davon ausgehen, dass sie bereits 2030 für einen globalen Umsatz von mehr als 15 Billionen Euro pro Jahr sorgen werden. Deutschland kann logischerweise nicht in jeder davon führend sein, aber McKinsey, BCG und Roland Berger haben neun Felder ausgewählt, in denen ein Platz in der Weltspitze realistisch wäre: Windenergie, Netztechnik, Power-to-Heat-Technologien (inklusive Wärmepumpen), Wasserstofftechnologien, Elektroautos, KI-Anwendungen für die Industrie, Robotics und Gesundheitstechnologien. Diese lassen sich grob den Geschäftsfeldern Digitalisierung, Klimaschutz, Mobilität und Pharma zuordnen.
Die Manager sehen in diesen neun Technologien den größten Hebel, um zusätzliches Wirtschaftswachstum in Deutschland zu generieren. Neu ist das für keine der genannten Branchen: In der Windenergie gehört Deutschland heute schon zur Weltspitze, wobei der Markt zu zwei Dritteln von China dominiert wird. Auch bei Wärmepumpen und Wasserstoff ist Deutschland bereits vorne dabei, in der Medizintechnik sowieso schon seit Jahrzehnten. Bei industriellen KI-Anwendungen und Elektroautos hinkt Deutschland zwar hinterher, ist aber auch nicht unrettbar abgeschlagen. Wirklich neu wären also nur der restliche Power-to-Heat-Markt, die Stromnetztechnik und Robotics.
Hier sehen die Analysten zwei Hebel für die Politik: Erstens sollen Investitionen gefördert werden, besonders für Startups, zweitens sollen mehr Top-Talente in diesen Bereichen ausgebildet, aber auch aus aller Welt nach Deutschland gelockt werden, etwa mit Steuererleichterungen. Auch das sind beides Themen, die bereits diskutiert werden.
Wichtig für das Wachstum der Zukunftstechnologien sei dabei auch die Dekarbonisierung des Landes: Die Berater würden das Verbrenner-Aus bei Pkw und Lkw mit wenigen Ausnahmen auf 2030 vorziehen und bei Schiffen und Flugzeugen ab dann nur noch Bio-Kraftstoffe erlauben. Merkwürdig wirkt der Vorschlag, den Wechsel von Gasheizungen auf Wärmepumpen einzuläuten, denn genau dies geschieht dieses Jahr durch das Gebäudeenergiegesetz bereits.
3. Mehr Investitionen in Infrastruktur und Bildung
Ist ihnen schon einmal aufgefallen, dass die Deutsche Bahn marode ist? Dass viele Brücken und Straßen saniert werden müssten? Dass Deutschland beim Glasfaser-Ausbau weit hinten dran ist? Dass Schulen sowohl technisch als auch vom Personal her schlecht ausgestattet sind? Sicherlich. Auch McKinsey, BCG und Roland Berger haben das bemerkt, weswegen mehr Investitionen in diese Bereiche gleich ein ganzes Kapitel ihres Manifests ausmachen. Wirklich neu ist keine der Forderungen, die meisten sind Jahrzehnte alt und werden immer wieder wiederholt, ohne dass Länderregierungen oder die Bundesregierung tatsächlich etwas daran ändern – wenngleich in dieser Legislaturperiode zumindest die Ausgaben für die Schiene deutlich ansteigen. Auch die Sprachförderung in Kitas muss verbessert werden, die Ganztagsbetreuung in Kindergärten und Grundschulen ausgebaut und die Integration von Zuwanderern im Allgemeinen und Flüchtlingen im Speziellen sollte schneller gelingen.
4. Hier soll das Geld für die Agenda 2035 herkommen
Was bisher offensichtlich ist: Der Zukunftsplan der drei Unternehmensberatungen kostet viel Geld. Wo dieses Geld herkommen soll, darüber schweigen sich die Autoren aber weitgehend aus. Bekannt sind aus den obigen Absätzen die Punkte, dass der Staat mehr Geld investieren sollte und institutionellen Investoren mehr riskantere Geschäfte etwa in Startups erlauben sollte – in engen Grenzen, um das Geld der Bürger dort nicht zu riskieren. Eine Steuererhöhung soll es nicht geben, im Gegenteil, die Steuern für Gut- und Spitzenverdiener sollen sogar gesenkt werden.
Also bleibt es letztes Mittel: Schulden. Die Berater verweisen darauf, dass Deutschland mit 64 Prozent des Bruttoinlandproduktes derzeit eine viel geringere Staatsschuldenquote habe als zum Beispiel Frankreich (111 Prozent) oder die USA (121 Prozent). Um diese zu erhöhen, braucht es aber eine Reform der Schuldenbremse – gegen die sich derzeit etwa CDU/CSU und FDP stemmen.
Eine Alternative wäre die europäische Kapitalmarktunion, bei der die Finanzmärkte innerhalb der EU harmonisiert werden. Damit könnten sich Unternehmen einfacher Kapital aus anderen EU-Ländern beschaffen. Allerdings arbeitet die EU an dem Projekt schon seit 2015. Die Pläne sind zudem umstritten.
5. Alle Parteien sollen sich in einem „Zukunftskonvent“ einigen
Die wohl illusorischste aller Annahme der „Agenda 2035“ ist, dass sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) und die Vorsitzenden der Grünen und der FDP noch im November auf einem „Zukunftskonvent“ treffen und einen gemeinsamen Fahrplan für die Umsetzung der vorgeschlagenen Ziele vereinbaren. Im Dezember und Januar sollten dann Arbeitsgruppen Details ausarbeiten und ein politischer Konsens bereits im Februar 2025 beschlossen werden. Dass sich die vier genannten Parteien plus die CSU in so kurzer Zeit auf eine so umfassende Agenda einigen, wenn selbst viel kleinere Vorhaben monatelang umstritten sind, ist so gut ausgeschlossen. Das gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass in rund einem Jahr ein neuer Bundestag gewählt wird. Daher handelt es sich in Summe bei dem Manifest um Denkanstöße, eine konkrete Umsetzung wird noch auf sich warten lassen.
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