Wenn mein letztes Jahr unter einem Zeichen stand, dann unter dem der Trennung. Offline entfernte ich mich von etwa einem halben Dutzend Bekannter, online von einer dreistelligen Zahl Follower.
Der 7. Oktober, und was darauf folgte, war auch eine Art Rorschachtest, der tief blicken ließ. Nicht zuletzt in unsere Selbstlügen, unseren Gerechtigkeitssinn, unsere Ressentiments. Die Grenze lief für mich nämlich nicht entlang ethnischer Linien, sondern zwischen den Menschen, die sich der binären Einfachheit hingaben, die Konflikte anbieten, und denen, die es nicht taten. Zwischen den Fahnenschwenkern und den Grüblern.
Zwischen denen, die sagten, dass es ein komplexes Thema sei, um dann ihre unterkomplexen Ansichten loszuwerden, und denen, die die Stille verstanden, die Komplexität gebietet, wenn Leid es nicht schon tut. Die ihre Reflexe und Sympathien ehrlich hinterfragen. Ihren Beitrag.
Zwischen denen, die nur sich sahen, und denen, die sich auch in dem anderen sahen.
Ich habe nicht für jeden ansprechbar zu sein
Die Trennungen online verliefen oft kommentar- und abschiedslos. Ich löschte, blockierte und entfreundete. Soziale Hygiene. Hatte ich auch vorher schon betrieben. Jetzt senkte ich nur die Messlatte. Als jemand fragte, warum ich nicht wenigstens mit den Menschen rede, bevor ich sie blockiere, schrieb ich ihm: „Weil ich nicht da war, als beschlossen wurde, dass ich für jeden ansprechbar zu sein habe, der einen Internetzugang besitzt, und es einer Erklärung bedarf, wenn ich es nicht bin.“
Als ich kürzlich aus dem PEN Berlin ausschied, las ich aufgeregte Worte eines Kollegen, die ich zigfach gehört hatte, und die mittlerweile zu Allgemeinplätzen geworden sind. Es schwang der Vorwurf fehlender Demokratiefähigkeit mit und das Diktat des Miteinanderredenmüssens. Das ewige Gefasel von der Spaltung der Gesellschaft.
Als stünden wir unmittelbar vor einem Armageddon, wo wir uns gegenseitig an die Gurgeln gingen, wenn wir es nicht jetzt schon online, offline, auf Panels und in der Kneipe verbal täten. Von Streitkultur war da die Rede und von Debattenkultur. Ganz wichtig jetzt, dass wir reden. Trotzdem reden. Unbedingt reden. Und wenn wir fertig sind, darüber reden, wie brav wir mit jemandem geredet haben, der eine andere, eine ganz andere Meinung hatte als wir selbst.
Hat das eigentlich jemals jemand hinterfragt? Gibt es dazu belastbare Zahlen?
Ist es wirklich das Klügste, Leute in Talkshows aufeinander loszulassen?
Und hat mal jemand aus einer anderen Debattenkultur gesagt, dass die hiesige so großartig sei? Dass es zum Beispiel das Klügste sei, Leute in Talkshows aufeinander loszulassen, deren Geschäftsmodell darauf basiert, eine konkrete, harte Haltung zu Themen zu haben und es sich ergo gar nicht leisten können, diese zu überdenken? Und die sich gerade vor unseren Augen verrennen und radikalisieren? Oder dass es uns als Gesellschaft voranbringt, wenn Abertausende in die Leere ihrer kaum beachteten Kanäle hinein meinen und ihr Halbwissen zementieren, als wäre jeder Post ein Thesenanschlag an die Kirchentür? Gab es vor dem Internet weniger Zusammenhalt?
Hängt das Überleben einer Demokratie wirklich an den digitalen Fäden von Facebook- und X-Threads?
Ein Satz, der mir zum Leitfaden geworden ist, wenn ich meine Teilnahme an einer Debatte abwäge, kommt von dem verstorbenen buddhistischen Gelehrten Thich Nath Hanh. In einem echten Dialog sind beide Seiten gewillt, sich zu ändern, lautet er. Einfacher hat es mal mein Oberstufenlehrer formuliert: Der Kopf ist rund, damit die Gedanken die Richtung wechseln können.
Und ich erinnere mich nicht, wann ich es das letzte Mal erlebt habe, dass jemand diese Qualität in ein Gespräch eingebracht hat. Schon gar nicht in ein öffentliches.
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