Ein Löffel in der Unterhose als letzter Ausweg

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Manche tauchen nach den Sommerferien nicht mehr in der Schule auf. Manche werden schon in Deutschland in die Ehe gezwungen, andere werden von ihren Familien ins Ausland gelockt, und der Personalausweis wird vernichtet. Manche müssen sofort Mütter und Hausfrauen werden, andere ausharren. Zu einem Jawort gezwungen, das nicht sie, sondern ihre Familien gegeben haben. Ohne Aussicht, sich einen Freund selbst aussuchen zu dürfen, zur Schule zu gehen oder eine eigene ­Karriere anzustreben.

Nicht jede Zwangsheirat, nicht jede Verschleppung läuft gleich ab. Aber eines haben alle gemein: Sie sind in Deutschland verboten und passieren dennoch. Wie viele Mädchen jährlich gezwungen werden, den Rest ihres Lebens mit einem fremden Mann zu verbringen, ist unklar. Das Dunkelfeld ist vermutlich groß. Die jüngste Studie des Bundesfamilienministeriums liegt Jahre zurück. Demnach ließen sich 2008 insgesamt 3443 Personen zum Thema Zwangsheirat beraten. Der Großteil der Betroffenen sind Frauen mit einem ­Migrationshintergrund.

Manche Mädchen werden spontan verschleppt. Vor allem die Ferien sind eine Risikozeit, insbesondere die langen Sommerferien. Die Abwesenheit einer Schülerin fällt erst mal nicht auf, eine Reise ins Ausland ist nichts Ungewöhnliches.

Zurück nach Deutschland kommen die wenigsten. Sind die Frauen erst einmal im Ausland, kann die deutsche Justiz nicht mehr viel ausrichten. Hilfsorganisationen und auch das Familienministerium sagen: Ohne Dokumente, ohne Geld und unter der ständigen Kontrolle der Familie im Ausland ist eine Rückreise sowohl rechtlich als auch praktisch schwer bis unmöglich. Laut der Studie des Familienministeriums müssen die betroffenen Frauen in den meisten Fällen ihre Schule oder ihre Ausbildung abbrechen. Die Hilfsorganisationen verweisen ausdrücklich ­darauf, dass es für gefährdete Frauen ­lebensentscheidend sein kann, wenn sie Deutschland nicht mit ihrer Familie ­verlassen.

Der Löffeltrick als letzte Chance am Flughafen

Die womöglich letzte Fluchtmöglichkeit bietet der deutsche Flughafen. Unter dem Hashtag „Löffeltrick“ kursieren in den sozialen Medien Videos, in denen empfohlen wird, dass Frauen sich bei der Ausreise einen haushaltsüblichen Löffel in die Unterhose stecken sollen – um so vom Sicher­heitspersonal für eine weitere Kon­trolle beiseitegezogen zu werden. Das ist ihre Chance, auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Der Löffel in der Unterhose spricht im besten Fall für sich. Auf Anfrage erklärt ein Sprecher der Bundespolizei, dass das Flughafenpersonal für die Löffel­methode sensibilisiert worden sei.

Elisabeth Gernhardt vom Referat „Gewalt im Namen der Ehre“ der Hilfsorganisation Terre des Femmes sagt: „Das ist ein guter Trick. Ob er funktioniert, hängt allerdings von verschiedenen Faktoren ab. Viel wichtiger ist daher, sich bereits im Vorfeld Hilfe zu suchen.“ Die britische Hilfsorganisation Karma Nirvana und auch Terre des Femmes selbst empfehlen die Methode in Workshops – allerdings nur für den absoluten Notfall.

Mona Siegbert arbeitet bei Papatya, einer Hilfsorganisation zum Schutz und für die Beratung bei familiärer Gewalt, Zwangsverheiratung und Verschleppung. Auch sie sagt, der Löffeltrick müsse nicht immer funktionieren. Es sei realitätsfern zu glauben, eine Flucht am Flughafen wäre leicht und würde auf diese Weise immer glücken. Siegbert heißt eigentlich anders, zum Schutz der Hilfesuchenden tritt sie in der Öffentlichkeit unter Pseudonym auf.

Viel Mut, wenig Zeit, schwerwiegende Konsequenz

Die Hilfsorganisationen sind sich einig: Wichtig ist zunächst, sich überhaupt bewusst zu machen, wie bedeutsam der Flughafen und die mögliche Unterstützung dort sein können. Auch ohne einen Löffel kann die Bundespolizei am Flughafen nach Hilfe gefragt werden. Auch das Flugpersonal könne im Zweifel noch angesprochen werden, sagt Gernhardt. Wichtig sei vor allem, dass die Betroffene in ihrer kurzen Zeit am Flughafen genügend Entschlossenheit und Mut aufbringe, die Situation in die Hand zu nehmen – weder eine leichte Entscheidung noch eine leichte Aufgabe. Zumal Mädchen aus patriarchalen Familien selten beigebracht werde, selbständig Entscheidungen zu treffen.

Vor allem bedeutet der Hilferuf am Flughafen auch, sich zumindest vorübergehend von der Familie zu trennen – wenn nicht sogar, ganz mit ihr zu ­brechen. Die betroffenen Mädchen können in eine anonyme Hilfsstelle ­gebracht werden, Frauen von 18 Jahren an in Frauenhäusern unterkommen. Dort können sie mit Abstand zur Familie und in beratender Begleitung entscheiden, wie es weitergehen soll.

Beratung im Vorfeld dringend empfohlen

Im besten Fall sollten sich Betroffene bei Sorgen rund um das Thema Zwangsheirat schon vor der Ausreisesituation Hilfe suchen. Anlaufstellen sind etwa das bundesweite Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen (116 016), die Zentrale ­Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser oder Papatya. Zudem gibt es mehrere Beratungsstellen in allen Bun­des­ländern. Frauen können sich auch anonym beraten lassen. Weil Eltern ihre Töchter oft nur in der Schule nicht kontrollieren können, ist diese entscheidend für ­die Präventionsarbeit. Schülerinnen haben dort am ehesten die Möglichkeit, über Freunde, Lehrer oder technische Geräte der Schule zu kommunizieren, sich zu informieren und nach Hilfe zu ­fragen.

Laut Elisabeth Gernhardt gibt es verschiedene Warnzeichen für eine drohende Heiratsverschleppung. Etwa wenn eine Schülerin immer direkt von der Schule abgeholt wird, nicht mit auf Klassenfahrt gehen darf und sich außerhalb der Schule nicht mit Freunden trifft. Womöglich berichtet sie auch von einer längeren Reise zu Verwandten ins Ausland.

Nach Siegberts Angaben riskieren junge Frauen gerade dann eine Verschleppung, wenn sie Kontakt zur ­Jugendhilfe aufnehmen oder eine von der Familie unerwünschte Liebesbeziehung führen. Sowohl Terre des Femmes als auch Papatya raten Lehrern oder Außenstehenden dringend davon ab, ohne Beratung aktiv zu werden und eigeninitiativ ein klärendes Gespräch mit der Familie zu führen. Im Zweifel könne diese Vorgehensweise Gewalt ­eskalieren lassen.

Wenn es doch ins Ausland geht

Die Betroffenen sind in die Entscheidungen ihrer Familien über ihre Zukunft in der Regel kaum oder gar nicht eingebunden. Eine Zwangsheirat im Ausland finde sogar häufig ohne Vorwarnung oder unter einem Vorwand wie einem Familienfest statt, sagt Siegbert von ­Papatya. Häufig wüssten ­Betroffene selbst nicht sicher, ob eine Rückreise für sie geplant sei, oder sie fühlten sich ihrer ­Familie gegenüber verpflichtet. Gernhardt von Terre des Femmes weist auch auf den psychischen Druck hin, dem Betroffene in solchen ­Situationen ausgesetzt sind. Es sei nicht leicht für junge Frauen und Mädchen, sich ihrer Familie zu widersetzen – gerade wenn zusätzlich Sanktionen in Form von psychischer oder gar körperlicher Gewalt ­drohen.

Die Hilfsorganisation Papatya gibt Tipps, was Betroffene vor einer Ausreise tun können, um die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr zumindest etwas zu er­höhen. Dies betrifft zum einen rechtliche Vorbereitungen, beispielsweise das Erteilen einer Vollmacht für Personen in Deutschland. Aber auch praktische Vor­bereitungen können nützlich sein: eigenes Geld einstecken, den Pass kopieren oder unbemerkt ein Prepaidhandy mitführen.

Trotz dieser Tipps legt Papatya Betroffenen ans Herz, die Ausreise gut zu überdenken und sich im Zweifel besser dagegen zu entscheiden. „Rückhol­aktionen sind komplex, finden unter höchsten Sicher­heits­vorkehrungen statt und sind für Betroffene mit großen psychischen Belastungen verbunden“, sagt Mona Siegbert. Und nur in einem Bruchteil der Fälle gelinge es, Betroffene zurück nach Deutschland zu holen. Häufiger müssten Betroffene sich ihre Rückkehr durch Gehorsam erarbeiten – oder aber sie kommen niemals wieder.

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