Es ist nicht ganz klar, wie viele es sind, aber es gibt sie: Minderjährige, die beispielsweise im Tiergarten und auf der Bar-Meile im Nollendorfkiez ihren Körper gegen Geld anbieten müssen. Einige kommen aus dem Ausland, oft aus derselben Region in Rumänien oder Bulgarien.
Die Dunkelziffer ist hoch, da viele Fälle nicht zur Anzeige gebracht werden. „Es sind Arschlöcher, die bewusst nach Minderjährigen suchen oder das in der Szene geschehen lassen“, sagt Sozialarbeiter Lukas Weber, Geschäftsführer des Vereins Hilfe für Jungs e.V. Die Gründe sind vielschichtig: Einige junge Männer werden durch Menschenhändler oder Familie dazu gezwungen, andere tun es, um die Drogensucht zu finanzieren oder der Armut zu entkommen. Diese Jungen müssen das Geld meist sofort an Familienoberhäupter weitergeben, so Weber. Es gehe um die Grundversorgung der Familie. Sexuelle Ausbeutung ist in der Szene grausame Realität. Jahr für Jahr ermittelt die Polizei in mehreren Hundert Verfahren gegen Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung. Zu über 90 Prozent sind die Opfer Frauen. Im Jahr 2022 war jedes dritte Opfer, dessen Alter ermittelt werden konnte, unter 21 Jahre alt.
Projekt Subway richtet sich an junge Männer
Das Projekt Subway ist in Berlin das einzige Projekt, das den Schwerpunkt auf Mann-männliche Prostitution legt. Es wird unter anderem von der Senatsjugendverwaltung gefördert, das Projekt arbeitet auch im Bereich des Kinderschutzes. Dabei suchen die Sozialarbeiter Jungen aktiv an bekannten Orten wie dem Schöneberger Norden, dem Tiergarten oder über Dating-Apps auf. „Die Jungs erkennen uns oder wir nehmen den Kontakt auf. Es geht uns darum, dass die Jungs auf das Hilfsangebot von Subway aufmerksam werden“, sagt Weber.
Es gibt auch Männer, die sich bewusst und selbstbestimmt für Sexarbeit entscheiden. „Diese Gruppen dürfen wir im öffentlichen Diskurs nicht vermischen. Menschenhandel und Ausbeutung hat nichts mit legaler Sexarbeit zu tun“, sagt Weber. Besonders wichtig sei das in der Debatte zum Nordischen Modell. Dieses Sexkaufverbot, das bereits in Ländern wie Schweden oder Norwegen existiert, setzt bei seiner Einführung durch, dass sich nicht die Prostituierten, sondern die Freier strafbar machen. Viele Sexarbeiter lehnen das Modell strikt ab. Sie fürchten, so noch weiter in die Illegalität gedrängt zu werden – und haben Angst um ihre Existenz.
Projekt Smart: Hilfe für Männer, die selbstbestimmt der Sexarbeit nachgehen
Das Projekt Smart richtet sich an Sexarbeiter ab dem 21. Lebensjahr, die dem Beruf selbstbestimmt nachgehen. Interessant: Durch die verschiedenen Projekte des Vereins mit unterschiedlichem Schwerpunkt agiert Weber zugleich im Auftrag des Kinderschutzes und als Befürworter von Sexarbeit. Funktioniert das? „Wir müssen differenzieren, um passgenaue Angebote zu schaffen. Ein junger Mensch, der sexualisierte Gewalt durch jemanden erfährt oder sogar ausgebeutet wird, benötigt ganz andere Dinge als eine Person, die freiwillig der Sexarbeit nachgeht“, sagt Weber.
Sexarbeit ist nicht nur geldwerte Leistung gegen Körperkontakt, sondern auch Escort ohne sexuelle Dienstleistung oder Camgirl. „Das sind nicht die Frauen auf der Kurfürstenstraße, sondern auch manchmal nur der Student, der sich am Wochenende durch Escort-Begleitung Geld dazuverdient. Es steht nicht immer ein Zuhälter dahinter.“ Und wenn doch, dann sollte es klar als Ausbeutung und nicht als Sexarbeit benannt werden, fügt er hinzu.
HILFE-FÜR-JUNGS e.V./intern
Unter 18 Jahren: Immer Ausbeutung und Menschenhandel
Der Geschäftsführer trifft die Berliner Zeitung in den Räumen des Vereins in der Schöneberger Kirchbachstraße. Nebenan können die Männer Wäsche waschen, duschen oder sich ausruhen. Es stehen Betten, Sofas oder eine Tischtennisplatte zur Verfügung. Von außen lässt sich nicht durch die Fenster, eines ist gekippt, hineinschauen. An einem Tisch spielen zwei Jugendliche Karten. „Vieles spielt sich in der Nacht ab. Wir bieten einen sicheren Rückzugsort, um Beziehungsarbeit zu leisten“, sagt Weber.
Im Jahr 2023 haben 1536 Personen die Anlaufstelle aufgesucht, liest Lukas Weber vor. „Bei Jugendlichen handelt es sich ohne Ausnahme um Missbrauch, Ausbeutung und Menschenhandel“, sagt er. „Kein 16-Jähriger entscheidet sich aus freien Stücken dazu, anzuschaffen.“ Die meisten seiner Klientel in der Szene seien nicht homosexuell. Es gebe zahlreiche Ausnutzungsfaktoren, so werde den Jungen ein Schlafplatz geboten oder der nächste Drogenkonsum. Bezahlung: sexuelle „Dienstleistungen“.
Mit möglichst niedrigschwelligen Angeboten wie Subway versuchen sie, den jungen männlichen Prostituierten, zu denen auch nicht-binäre und Trans-Personen zählen, zu helfen. Hier gehe es häufig um die Grundbedürfnisse, sagt Weber. Auch mit Ärzten sei die Initiative an den Sammelpunkten der Szene präsent. Dabei geht es um Geschlechtskrankheiten, es werden aber auch Kondome und Gleitgel verteilt. Ein weiteres Ziel der Initiative: Perspektiven schaffen, beispielsweise Ausstiegsmöglichkeiten durch Ausbildungen oder Jobs bieten.
Schutzraum für Männer – viele haben keine Worte für das, was ihnen passiert
„Das Wichtigste ist, dass sie hier sicher sind und nichts leisten müssen“, sagt Weber. Viele stünden unter einem enormen Performance-Druck, sprechen hypersexualisiert und testen mit Macho-Gehabe ihre Grenzen aus. Oft kennen die Jungen es nur, dass sie eine Gegenleistung bringen müssen, wenn jemand etwas für sie tut. Es sei neu für sie, dass „niemand sehen möchte, wie ihr Schwanz aussieht“, sagt Weber.
Während des Gesprächs wählt der Sozialarbeiter seine Worte mit Bedacht. Zitiert er allerdings Sätze aus seinem Alltag, wird der Ton rau, löst Unbehagen aus. Etwa, wenn Weber erzählt, dass einige seiner Schützlinge beispielsweise beim externen Arztbesuch nicht ernst genommen werden, wenn sie sagen: „Mir tut der Arsch weh, ich wurde gestern dort rein gefickt.“ Die Sprache sei das Problem. Viele haben keine Worte für das, was ihnen passiert und was sie tun.
Deshalb nennt auch Lukas Weber die Menschen bei Subway nicht Sexarbeiter, nur die bei dem Projekt Smart. Das liege zum einen an der Fremdsprache, zum anderen aber auch an der fehlenden Selbstbezeichnung. Aber: „Über so elitäre Dinge denken die Jungs gar nicht nach“, sagt er. Vielen gehe es um die Erfüllung der Grundbedürfnisse, dass sie essen, trinken und schlafen können.
Weber: Verlogene Debatte über Sexarbeit
Die Debatte über Sexarbeit und das Nordische Modell findet Lukas Weber verlogen und scheinheilig. „In der sozialen Arbeit werden Gelder gestrichen“, sagt er. Auch der Verein ist auf Spenden angewiesen, müsse sich jedes Jahr erneut auf dieselben Gelder bewerben. „Es kostet die Politik weniger, einfach Gesetze zu verschärfen. Das ist Bullshit, aber kostenfrei.“
Das Gleiche geschehe auch im allgemeinen Teil des Kinderschutzes. Seit Jahren kämpfen die Fachberatungsstellen für eine angemessene Finanzierung, bisher ohne Erfolg, sagt Lukas Weber. Wie lässt sich das ändern? „Wir brauchen einen Skandal, am besten eine bekannte Person, die davon erzählt, selbst sexualisierte Gewalt erlebt zu haben, oder eine schockierende Enthüllung wie in Lügde oder damals am Canisius-Kolleg. Dann fließen die Millionen.“
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